Wirtschaft nicht ohne Kultur

Wirtschaft nicht ohne KulturGörlitz, 19. Oktober 2021. Von Thomas Beier. Im nahen Görlitz macht Kunst gerade das, was zu ihren Aufgaben gehört: sie polarisiert und regt damit zu eigenen Positionen und den Austausch darüber an. Allerdings können nicht alle Bürger damit umgehen, was ihnen als Kunst begegnet, denn viele unterscheiden nur, was ihnen gefällt und was nicht. Gefälligkeit ist jedoch nicht das primäre Anliegen von Kunst.

Abb.: Tag der Deutschen Einheit in Münster am 3. Oktober 2017: Ist das Kunst oder sogar ein Denkmal oder kann das weg?
Foto: © BeierMedia.de
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Kunst als Kitt für die Gesellschaft

Die Rede ist von der Kunstausstellung Görlitzer ART 2021/22, die es zehn Studenten beziehungsweise Absolventen der altrenommierten Hochschule für Bildende Künste Dresden ermöglicht hat, äh, ermöglichen wollte, an unterschiedlichen Orten im im öffentlichen Raum der Stadt Görlitz je ein vorab von einer Jury ausgewähltes Beispiel ihres Schaffens auszustellen.

Die Ermöglichung kam Lisa Maria Baier nicht zugute: Sie hatte ihren ursprünglichen Entwurf bei der Realisierung mit einer Aussage für ein genzenloses – eine Anspielung auf die dem Aufstellungsort nahe sächsisch-polnische Grenze – Abtreibungsrecht versehen, was seitens der Stadt Görlitz als Vertragsbruch gewertet wurde. Schon zur Eröffnung der Görlitzer ART 2021/22 war die Abbildung ihre Ausstellungsobjektes "Kulisse" im Flyer geschwärzt worden und nach einigem rechtlichen Hickhack wurde es von seinem Ort vor der Stadthalle Görlitz entfernt.

Zehn kleine Künstlerlein stellten Kunst in Görlitz aus,
Einer stellt sich selbst ein Bein, da waren’s nur noch neun.


Die Lisa möge verzeihen, im Vers schlicht als Mensch vorzukommen und ihre Künstlerseele möge sich gestreichelt fühlen, dass alle großen Künstler – und damit selbstverständlich auch Künstlerinnen – aus so einem doppelt verkleinerten "kleinen Künstlerlein" hervorgegangen sind.

Der Vers hat seine Wurzeln bei Septimus Winner (1827 bis 1902), 1970 aufgenommen in die Songwriters Hall of Fame, und läuft darauf hinaus, dass von zehn Leuten nach und nach keiner mehr übrig bleibt. Im Ursprung gibt es für diese Geschichte zwei Vorlagen, nämlich die von Winner, die mit "Ten Little Injuns" die Indianer verspottete, und jene von Frank J. Green, der daraus "Ten Little Niggers" machte. Die erste deutsche Fassung schuf F. H. Benary mit "Zehn kleine Negerknaben" im Jahr 1885.

Die zehn Indianer beziehungsweise Negerlein fanden umfassend Eingang in die Kultur, in Kinderbücher und Lieder und dienten als Ideengeber für "Zehn böse Autofahrer" von Mut, Tatendrang und Schönheit (MTS), "Zehn kleine Jägermeister" von den Toten Hosen, "Zehn kleine Fixer" von Georg Danzer und viele andere Musikstücke, in denen die Textidee von rassistischen Aspekten befreit wurde. Auch auf der Stones-LP "Exile on Main St" (1972) kommen sie im Titel "Sweet Black Angel" vor.

Kultur: so oder so

Bemerkenswert ist eine aus dem Russland des Jahres 1901 stammende Liedvariante der Geschichte von den Zehn, die nacheinander sterben müssen. Sie verdeutlicht kulturelle Unterschiede, denn anders als das amerikanische und später auch in Deutschland beliebte rassistische Lied, das in vielen Ohren auch beim Hören anderer Textfassungen mitschwingt, hat das jiddische Volkslied "Tsen Brieder" (Zehn Brüder) einen melancholischen Charakter: Zehn jüdische Brüder kommen beim Handel mit unterschiedlichen Waren nacheinander um, weil sie, wie sich am Ende herausstellt, verhungert sind. Auch dieses Lied wurde von Liedermachern in Deutschland bearbeitet.

Man sieht: Kultur ist nicht identisch mit Kultur. Das macht es schwierig, Kultur oder ihre Erscheinung als Kunst zu bewerten und man kann vieles diskutieren, etwa ob es einen Unterschied zwischen kreativem Schaffen und Kunst gibt. Harsche Urteile wie das der Görlitzer AfD-Fraktion, die im Zusammenhang mit der Görlitzer ART 2021/22 von "Geldverschwendung auf Kosten der Allgemeinheit" spricht, "billigen Schund" kritisiert und in Gestalt von Sebastian Wippel fordert, der Stadtrat müsse "das entscheidende Mitspracherecht bei der Auswahl der Projekte haben, damit sich die Bürger auch bei der Auswahl wiederfinden" gehen allerdings an dem, was Kunst ausmacht, vorbei.

Zum Glück – Oder wohlweislich? – wurde der Begriff der "entarteten Kunst" nicht benutzt. Zur Erinnerung: Als entartete Kunst bezeichneten die Nationalsozialisten schon vor ihrer "Machtergreifung" und in ihrem sogenannten Dritten Reich alles, wofür ihr Kunstverständnis nicht ausreichte und zudem das, was sie aus rassistischen Gründen ablehnten. Drei Propagandaausstellungen, die "Entartete Kunst" 1937, sie sich gegen moderne Kunst richtete, die "Entartete Musik" 1938 gegen etwa Jazz und Swing und die "Große deutsche Kunstausstellung" als Präsentation "deutscher Kunst" sollten den kulturellen Anspruch und damit das Weltbild der Bevölkerung weiter einengen.

Kultur und Wirtschaft: Gibt es eine Priorität?

Viele große Wirtschaftsführer erwiesen und erweisen sich als Mäzene und legen sich außerdem eigene Kunstsammlungen zu. Klar gilt Kunst vielen als Kapitalanlage und mancher kritisiert, dass Kunst damit der Öffentlichkeit entzogen werde. Doch in vielen Fällen trifft das so nicht zu, denkt man etwa an das Museum Barberini, ein Kunstmuseum mitten in Potsdam, gestiftet von Hasso Plattner, Gründer der Firma SAP.

In Unternehmerkreisen kursiert die Ansicht, Kunst und Kultur müsse man sich leisten können, zuerst komme die Wirtschaft, die Kultur ermögliche. Davon abgesehen, dass Unternehmen und Kunst eine erfolgreiche Symbiose eingehen können: Ein Unternehmen ohne Kultur ist undenkbar, Kultur ohne Unternehmen jedoch schon. Kultur ist unter allen Völkern der Erde verbreitet, sie äußert sich in Traditionen, Ritualen und "geheimen Regeln" des Umgangs miteinander und nicht zuletzt in der Kunst. Als 1945 die Deutschen nach der Befreiung von den Nazis aus den Kellern krochen und in einer Trümmerwüste standen, war ein Neuanfang nur durch Kultur, zu der auch gelebte Werte gehören, möglich – eine funktionierende Wirtschaft war ja in den zerbombten Regionen nicht mehr da.

Auch vor diesem Hintergrund spielt heute die gelebte Unternehmenskultur in Wirtschaftsunternehmen und anderen Organisationen eine wichtige Rolle. Woran glaubt man im Unternehmen, welchen Sinn hat die eigene Arbeit, gibt es ausformulierte Grundsätze und Werte? Hinzu kommt das reale Verhalten des Unternehmens, sowohl nach innen gegenüber den Mitarbeitern als auch nach außen gegenüber den Marktpartnern. Und ein kluges Unternehmen wird seine Ansprüche auch im Design sichtbar machen, sowohl im Design der Produkte, der Dienstleistungen und des Services wie auch etwa mit dem Betriebsgebäude oder der Gestaltung von Unterlagen.

Alles fließt zusammen in der Identität eines Unternehmens oder einer Organisation als Voraussetzung für faszinierende Anziehungskraft wie auch Marktmacht. Ist es nicht seltsam, dass andere Merkmale wie moderne Technologie, ausgereifte und kundenfreundliche Erzeugnisse oder wettbewerbsfähige Preise nicht erwähnt werden? Das liegt daran, dass diese selbstverständlich sind oder mit der richtigen Strategie gar keine Rolle spielen. Anders gesagt: Für ein Unternehmen müssen die "harten Fakten" stimmen, ohne sie geht es nicht, zum Erfolg und zum langfristigen Bestehen im Markt führen allerdings die "weichen Faktoren".

Die für die Ausprägung notwendigen Prozesse kann kaum ein Unternehmen aus eigener Kraft stemmen: Es braucht eine kluge und erfahrene Unternehmensberatung als Begleiter, die erfolgversprechende Ansätze herauskristallisiert, in der Belegschaft für die Akzeptanz der Veränderungsprozesse sorgt und schließlich die Entwicklung einer Corporate Identity mit all ihren Bausteinen steuert. Unternehmensberater sind nämlich nicht die Besserwisser, die schlauer sind als die Führungskräfte im eigenen Haus, doch sie bringen als Experten den Werkzeugkasten der methodischen Vorgehensweisen, den systemischen Blickwinkel und vor allem das nötige Erfahrungswissen mit. In der Beratungspraxis zeigt sich, dass sich erfolgreich entwickelnde Unternehmen entstehen, wenn Veränderungs- und Verbesserungsprozesse, an denen abgestuft das gesamte Unternehmen beteiligt wird, mit einem Input an aktuellem Knowhow für die Geschäftsleitungsebene einhergeht.

Der Autor Thomas Beier hat 1994 die Beier Consulting gegründet und sich zunächst auf die strategische Entwicklung der Corporate Identity auf Basis der modernen Hirnforschung konzentriert. Schon bald kamen weitere Entwicklungssysteme hinzu, die auf die Erfordernisse der Führung in Betrieben des wirtschaftlich gesunden Mittelstands und größerer Organisationen wie etwa in Krankenhäusern und bei kommunalen Dienstleistern angepasst wurden.

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  • Quelle: Thomas Beier | Foto: © BeierMedia.de
  • Erstellt am 19.10.2021 - 12:15Uhr | Zuletzt geändert am 19.10.2021 - 15:24Uhr
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