Seinen Bildungsweg bestimmen

Seinen Bildungsweg bestimmenZittau, 13. Mai 2022. Von Thomas Beier. Plötzlich war sie da, die Diskussion in einer befreundeten Handwerkerfamilie: Soll der Sprössling Abitur machen oder nicht? Ein Plädoyer für Bildung.

Abb.: Beim Redaktions- und Direktionswagen des Görlitzer Anzeigers ist trotz Duroplast-Beplankung – denn darunter und überhaupt unten ist Blech – im Laufe der Jahre ist die eine oder andere Schweißnaht gefragt. Dafür braucht man kein Abitur, fürs Leben schon
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Bildungsaufstieg nicht ausbremsen

Bei der Familie handelt es sich um eine regelrechte kleine Handwerkerdynastie, denn Vater und beide Söhne haben ihren Meister in der gleichen Branche gemacht. Dass so etwas wirtschaftlich gesehen Synergieeffekte bringt, versteht sich ebenso wie von selbst wie der Gedanke, dass die nächste Generation auf dem Erreichten wieder aufbauen soll.

Doch nun das: Der jüngste Familienspross hat eine Bildungsempfehlung für das Gymnasium erhalten. Erste Reaktion des Vaters: "Aber da könnte ich ihm doch nicht mehr helfen!" – Stimmt, aber ist nicht schlimm, denn nur in seltenen Fällen haben selbst studierte Eltern den Abiturstoff noch parat.

Rückblick in "DDR"-Bildung

An dieser Stelle muss man einmal in die "DDR"-Zeiten zurückswitchen: Bildung war generell kostenlos, allerdings wurde ihr Wert genau deshalb nicht begriffen. Kategorien wie der westdeutsche "Bildungsaufstieg" waren unbekannt, weil man in einer Gesellschaft der Gleichmacherei und der Bevorzugung von Kindern aus der vermeintlichen Arbeiterklasse eben nicht aufsteigen konnte – so wurde es jedenfalls suggeriert.

Angesagt: Berufsleben hinter dem Reißbrett

Über Bildungswege im Ostdeutschland vor 1990 kann man lange palavern, angefangen von der "Wehrerziehung" im Kindergarten über den ständigen Druck an den Schulen, sich für eine militärische Offizierslaufbahn zu entscheiden bis hin zur Benachteiligung im Studium und Verweigerung der Promotionsmöglichkeit, weil man der "Partei der Arbeiterklasse" – heute die Linken – partout nicht beitreten wollte. Im Arbeitsleben ging es weiter: Parteibeitritt, Mitmachen in den "Kampfgruppen der Arbeiterklasse" oder wenigstens in der Zivilverteidigung waren Dauerthema. Aufs dreifache "Nein!" wurde mir prophezeit, als Konstrukteur zeitlebens nicht mehr hinter dem Reißbrett hervorzukommen – zum Glück kam es anders.

Abitur während der Berufsausbildung

Das alles kann ich ganz persönlich bezeugen und dennoch bin ich diesem Staatsgebilde für meinen Bildungsweg dankbar: die Berufsausbildung mit Abitur an einer Betriebsberufsschule. Das war die eigentliche Kaderschmiede der "DDR"-Wirtschaft und eine knallharte Angelegenheit: Während die Schüler an der Penne, wie die damaligen Erweiterten Oberschulen, heute wieder Gymnasien, genannt wurde, ihre Ferien genossen, waren die Berufsabiturienten Angestellte mit, wenn ich mich richtig erinnere, 15 Tagen Jahresurlaub.

Unerhöhrt: Lehrlingsstreik!"

Während die Penner ihre Ferien genossen, arbeiteten wir am Fließband im "VEB Waschgerätewerk Schwarzenberg" und schraubten dessen Erzeugnisse, vor allem Waschautomaten, zusammen. Mit Berufsausbildung hatte das freilich nichts zu tun, weshalb es bei uns zum – in der "DDR" vermutlich einzigen – Lehrlingsstreik kam. Schließlich wollten wir was lernen und nicht die Sündenböcke sein für einen Arbeitskräftemangel, der seine Ursachen in der niedrigen Arbeitsproduktivität der sozialistischen Planwirtschaft hatte.

Lernen: den Beruf und sozial

Dennoch war die Ausbildung in gewisser Weise perfekt, auch wenn sie an teils jahrzehntealten Maschinen erfolgte. Es war das Erlernen eine Berufs "von der Pieke auf", hier des Werkzeugmachers. Neben den technischen Fertigkeiten gab es einen weiteren Lerneffekt, den man heute als Sozialisierung bezeichnet: Als Lehrling war man mit den Arbeitern zusammen, da ist etwas, was man auf einem Gymnasium nicht lernt. Anders gesagt. Man ist als Lehrling geerdet, fremd jeder Überheblichkeit.

Das Manko

Nur eins bedaure ich, weil es kein Bestandteil meiner Ausbildung, die ihren Schwerpunkt bei Schnitt- und Umformwerkzeugen hatte, war: Schweißen habe ich nie gelernt. Freilich kann ich mit einem Baumarkt-Schweißgerät herumstümpern und kenne alles rund ums MIG-, MAG- und WIG-Schweißen aus der Theorie, aber gerade beim Schweißen entscheidet eben die Praxis. Falls ich das Rentenalter erlebe, habe ich einen Wunsch zum Rentenbeginn: Ein perfektes Schweißgerät mit allem Zubehör – schließlich will der Redaktionstrabi des Görlitzer Anzeigers ab und an auch mal geschweißt werden.

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  • Quelle: Thomas Beier | Foto: © Görlitzer Anzeiger
  • Erstellt am 13.05.2022 - 21:41Uhr | Zuletzt geändert am 13.05.2022 - 22:51Uhr
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