Gründerzeiten in Neugersdorf: Neuer Start für alte Fabrik
Ebersbach-Neugersdorf, 24. September 2017. Von Thomas Beier. Wer ab 1990 den binnen 15 Jahren abrupten Niedergang der Textilindustrie im sogenannten Oberland, das sich von Zittau in Richtung Löbau und Bautzen zieht, miterlebt hat, darf getrost traurig sein. Die ehemaligen Textilstandorte von Lautex (Lausitzer Textilien) und Textima (Textilmaschinen) sehen aus wie eine bombardierte Kleinstadt, in der anstelle des Wiederaufbaus resigniert, abgerissen und anschließend begrünt wurde. Nur wenig vom architektonisch oft interessanten Bestand an Industriebauten überlebte, so die vom Verein GründerZeiten e.V. in Eigentum übernommene und nach Helene Lina Koch benannten Fabrik "Lina Koch". Hier soll ein Begegnungsort für Kunst und Kultur, kreatives Schaffen und alternative Bildungsangebote für Menschen jeden Alters entstehen.
Die Enkel fechten's besser aus
Gestern hat der GründerZeiten-Verein in der Helene-Lina-Koch-Fabrik – Insider sagen auch HeLiKo – die Ausstellung "Ein Quartier erinnert sich. Rückblicke in textile Arbeitswelten." eröffnet. Seitens des Vereins machten den Job die putzmuntere Franziska Schubert und der binnen kürzester Zeit vollintegrierte Oberlausitzer Paul Kiesbye. Angelockt haben ihn die Freiräume aller Art, die in Deutschland in dieser Form wohl nur in der Oberlausitz zu finden sind.
Gekommen war vor allem die Erlebnisgeneration. Bei einem Rundgang war zu hören "hier hatte die Chefin ihr Büro, da mussten wir immer antreten", "hier standen die Nähmaschinen", "hier die Drucktische". Da ist es beruhigend, dass sich bei den Gründerzeiten eher junge Leute engagieren, die erst nach der Friedlichen Revolution geboren wurden und nun die alten Industriestandorte für sich entdecken. Wie sie die Geschichte der Orte respektieren, das zeigte sich bei einer Lesung von Erinnerungen früherer Arbeiterinnen in der Textilindustrie, die sehr dankbar angenommen wurde.
Alte Betriebszeitungen, Brigadetagebücher (damals eine ungeliebte Last und heute Zeitzeugen), die Erzeugnisse und der Wandel des gesamten ehemaligen Lautex-Quartiers nahe der heutigen tschechischen Grenze erlauben eine Zeitreise. Gestaltet wurde die Ausstellung wohltuend unspektakulär, aber der Authenzität des Raums angepasst in Kooperation mit der blendwerck-Agentur.
Wobei: Was scheinbar sachlich, an Dokumenten der Zeit orientiert herüberkommt, gibt den Alltag der "DDR"-Industrie nicht wieder. Die möglichst dreischichtige Maschinenauslastung in rollender Woche unter Mobilisierung aller Arbeitskräfte-Reserven (hier passt dieses den Menschen reduzierende Wort), Akkordarbeit und die Doppelrolle der Frauen in Industrie und Haushalt bleiben außen vor. Frauen, die nächtens ihre Kinder aus dem Schlaf reißen mussten, um mit dem Bus erst die Kinderkrippe und dann die Frühschicht zu erreichen, werden sich erinnern. Kinderwochenheime für Schichtarbeiterinnen, auch das war eine Facette des Manchester-Sozialismus.
Die Idee, Kopien unterschiedlichster Dokumente bis hin zu Schreiben an Birgit Breuel als Treuhand-Präsidentin auf dem Boden der Ausstellungsfläche zu verteilen führt – schade – nicht dazu, dass sich jemand die Mühe macht, eines der Blätter in die Hand zu nehmen – in der Ausstellung geht die Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes darüber hinweg. Hinter einem der alten Fenster projizierte alte Werbefilme versinnbildlichen den Abstand zu einer Zeit, in der auch für Produkte geworben wurde, die im Laden nicht verfügbar waren (einer der Gründe, weshalb das "DDR"-Fernsehen die Werbesendung "Tausend Tele-Tips" 1976 endgültig beerdigte). Auf den Ausstellungstischen, unter großformatigen Bildern, lassen sich Lautex-Produkte, vom kitschigen Bildertuch für den Export in die Sowjetunion bis hin zum Rock, Musterbücher und anderes mehr entdecken.
Für alte Knochen, die mindestens eine Hälfte ihres Lebens in der "DDR" verbrachten, ist das Engagement des GründerZeiten-Vereins beruhigend, weil: Die machen noch was draus, wischen die Erinnerungen nicht beiseite. Das war auch unter den Veteranen der "DDR"-Industrie, die zur Ausstellungseröffnung gekommen waren, zu spüren. Die haben sich nämlich über die Veranstaltung, die ja auch eine Würdigung des Lebens der Textilarbeiter war, so richtig gefreut. Für jüngere ist die Ausstellung ein Ort, der einen Ausschnitt des Arbeitsalltags im Sozialismus wiedergibt, vor allem jedoch verdeutlicht, weshalb so mancher mit verklärter Wehmut daran zurückdenkt.
Prädikat: Unbedingt hingehen!
Sonntag, 24. September 2017, von 11 bis 17 Uhr,
HeLiKo, Rudolf-Breitscheid-Straße 37b, 02727 Ebersbach-Neugersdorf:
Herbstfest
Live-Lesungen um 13 und um 15 Uhr, jeweils anschließend Fabrikführungen.
Wer die Ausstellung später sehen möchte, sollte bei den GründerZeiten per E-Mail anfragen.
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- Quelle: Thomas Beier | Fotos: © Görlitzer Anzeiger
- Erstellt am 23.09.2017 - 21:18Uhr | Zuletzt geändert am 02.12.2022 - 20:29Uhr
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